In der Atemarbeit nach Ilse Middendorf versuchen wir unseren Atem bewussst zu beobachten, ohne ihn gleich zu verändern. Zwischen Atem, Sammlung und Empfindung besteht/entsteht eine gegenseitige Wechselwirkung, die mit Hingabe und Achtsamkeit eine beobachtbare Entwicklung aller Ebenen (körperlich, seelisch, geistig und spirituell) ermöglicht.
"Sammle ich mich in eine Gegend meines Leibes, so empfinde ich dort.
Empfinde ich eine Gegend meines Leibes, so bin ich auch hingesammelt.
...sammeln, empfinden, atmen ist die Grundlage des Übens am Erfahrbaren Atem"
Middendorf, Der Erfahrbare Atem, 2007, S. 20
In der Atemlehre nach Ilse Middendorf werden die Übenden ganzheitlich angesprochen. Middendorf beobachtete, dass der Atem einer jeden Person individuell ist, als Ausdruck seiner/ihrer Persönlichkeit. So sind auch unsere Interventionen als Atempädagog:innen individuell.
In Besinnung auf vorhandene Ressourcen werden die Lernenden darin bestärkt, sich ihren Kraftquellen zuzuwenden, um mehr Lebensqualität zu erhalten und ihre Persönlichkeit zu entwickeln. Der Atem selbst kann dabei zu einer gut abrufbaren, effektiven Energiequelle im Alltag werden.
Diese Art der Arbeit mit dem Atem ist dabei nicht als Technik zu verstehen, sondern als Erlernen einer Achtsamkeitspraxis.
Sie erweitert das Bewusst-Sein, das Gefühl von Ganz-Sein, indem sowohl aktivierende als auch beruhigende Elemente kräftigend wirken. Grenzen werden spürbar sowie Verbundenheit, Einheit mit sich selbst, anderen, der Umwelt, mit dem Leben an sich.
Ilse Middendorf suchte nach einer Arbeitsweise, die es vermag, langanhaltende Verbesserungen, Ganzheitlichkeit bereitzustellen, und fand auf ihrem Weg den Erfahrbaren Atem, also jenen Atem, den wir bewusst beobachten können durch unsere Sammlungsfähigkeit, durch unsere Aufmerksamkeit.
Forschend, neugierig erkunden wir, wie sich unser Atem auf verschiedene Bewegungsangebote einstellt und führen ihn in der Regel nicht. Über-, sowie unterspannte Bereiche im Körper werden ausgeglichen und dadurch entsteht bereits viel Kraft.
Der gemeinsame Austausch, das Integrieren der gemachten Übungen durch bewusstes Nachspüren und das Ruhen sind zentrale Elemente in der Arbeitsweise und ermöglichen, dass Erfahrenes sich vertiefen kann und der Atem somit "von selbst" tragend wird. Eine (seelische und körperliche) Haltung und Stimme, die vom Atem getragen ist, verleiht Ausdruckskraft.
Bezüglich der spirituellen Ebene des Atems sagte Ilse Middendorf man "bekommt immer mehr Sicht in Neues und in das hinein, was wir unsichtbar nennen, also es wird der religiöse Hintergrund durchsichtiger...er wird eine Wirklichkeit...das ganze ist ein Bewusstseinsweg". Middendorf war nicht in einer bestimmten Glaubensrichtung verankert und sprach auch nicht von Gott, sonder vom "Wesentlichen" (Ö1 Menschenbilder). Sie entwickelte eine Form der Arbeit am Atem, passend in den westlichen Kulturkreis.
Eugen Drewermann nahm auf Middendorfs Atemarbeit einst bezug und stellte fest:
"Wie Frau Middendorf eben zeigte, wie man atmet, in unserem Kulturkreis ist das völlig aus dem Bewusstsein, dass in der indischen, in der chinesischen Religion atmen ein religiöser Vorgang ist, Vertrauen zu bilden. Wir wissen das im Christentum nicht mehr, so sind wir unfähig geworden zu heilen, den Menschen nahe zu kommen, sie zu sich selber zu führen."
Hinsichtlich der spirituellen und seelischen Erfahrungsebene des Atems ist auf die Wirksamkeit der Atemarbeit nach Ilse Middendorf im palliativen Bereich hinzuweisen, wie dies in der Dissertation von Frau Eckert festgehalten wurde. In weiteren wissenschaftlichen Auseinandersetzungen wurden zudem Verbesserungen des Körpergleichgewichtes sowie von Rückenschmerzen nachgewiesen. Zu erwähnen sind auch zwei Studien, die einen positiven Einfluss dieser Atemlehre auf die Psyche feststellen, denn die Lenkung der Achtsamkeit auf den Atem bedeutet vielfach Entlastung/Erleichterung, Reflexion vorhandener Ressourcen und damit eine Erhöhung der eigenen Resilienz, also der psychischen Widerstandskraft.
Mein Ausbildungslehrgang (2019-2021) wurde von Norbert Faller und Margarete Edelsbrunner-Pretterhofer geleitet.